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Andrej Kurkow: Graue Bienen

 

Der Bienenzüchter Sergej Sergejitsch lebt mit seinen 6 Bienenstöcken auf seinem kleinen Hof in der Grauen Zone im Dombas. Er ist geschieden, die Ex-Frau Witalina lebt mit der gemeinsamen Tochter Angelina in Winnyzja in der Westukraine. Außer ihm ist nur noch sein „Jugend-Feind-Freund“ Paschka im Ort geblieben, alle anderen sind weggezogen, da es weder Strom noch irgendeine Versorgung im Ort gibt und man ständig den Gefechtslärm aus den umkämpften Gebieten in dieser Region in der Ostukraine hört.

Da auch im dritten Winter die Kämpfe nicht aufhören, beginnt Sergej sich Sorgen um das Wohl seiner Bienen zu machen. Außer ihnen hat er niemanden mehr am Hof, wegen der Silikose aus seiner beruflichen Tätigkeit wurde er in Frühpension geschickt und wegen der Minengefahr kann er seinen Gemüsegarten nicht mehr bearbeiten. Dadurch hat er viel Zeit für seine Bienen und seine Bindung zu ihnen ist sehr eng geworden. Sein Leben ist karg und einsam, von Entbehrungen gekennzeichnet – der nächste Ort liegt viele Kilometer entfernt, die er wegen seiner Krankheit nur schwer zurücklegen kann – und nur Paschka bringt etwas Abwechslung in sein tägliches Leben. Nach vielen Überlegungen und Tagträumen entschließt er sich im beginnenden Frühjahr, seine Bienen im kommenden Sommer in ein ruhigeres Gebiet zu bringen, damit nicht „auch der Honig noch nach Krieg schmeckt“. Kurz entschlossen – so viel Elan hätte man ihm gar nicht zugetraut – packt er die nötigsten Dinge in das alte Auto, das er von seinem Vater geerbt hat, schnallt die Bienenstöcke auf den Anhänger und macht sich auf in den Westen. Er möchte seinen Bekannten Achtem, den er vor etlichen Jahren bei einem Bienenzüchter-Kongress kennengelernt hat, auf der Krim besuchen und dort seine Bienen Honig sammeln lassen.

Er muss etliche besorgniserregende Grenzkontrollen passieren, sein Pass und all sein Hab und Gut wird genauestens kontrolliert. Verwunderung löst offenbar seine Reise für die Bienen aus, aber auch Mitleid, weil er aus der grauen Zone kommt. Unterwegs bleibt er in einem größeren Ort – Wessele – für einige Zeit mit seinen Bienen an einem ruhigen Waldrand. Die Verkäuferin im örtlichen Geschäft, Galja, nimmt ihn auch freundlich in ihrem Haus auf, versorgt ihn, der im Zelt nur von mageren Mahlzeiten lebt, mit warmem Essen und verkauft den Honig seiner Bienen. Er bleibt aber ein Außenseiter und wird von der Dorfbevölkerung misstrauisch beobachtet.

Eines Tages zerstört ein junger Kriegsheimkehrer, der seine Erlebnisse nicht verarbeitet hat, alle Scheiben seines Autos, sodass er sich nächtens wieder auf den Weg Richtung Krim begibt.

Auch dort muss er unangenehme Einreisekontrollen erleben, er erhält ein Visum für 90 Tage, bevor er bei der Familie seines Bekannten ankommt. Von der Familie erfährt er, dass sein Bekannter Achtem zwei Jahre zuvor verschleppt wurde, seine Frau Ajsylu, der Sohn Bekir und die Tochter Ajsche haben nichts mehr von ihm gehört. Als Krimtataren sind sie eine unterdrückte Minderheit – Außenseiter wie er – und erfahren bei den Behörden nichts, werden nicht einmal vorgelassen. Da Sergej seine Bienenstöcke bei ihren aufstellen darf, der Sohn beim Honigschleudern und Verkauf des Honigs hilft, erklärt er sich schließlich bereit, für sie bei der Behörde nachzufragen. Auch er wird herablassend behandelt – aber seine Nachfrage bewirkt wenigstens, dass die Familie Achtems Leichnam wiederbekommt und nach den üblichen religiösen Riten bestatten kann. Gegen Ende des Sommers wird auch Bekir von der Behörde unter fadenscheinigen Gründen verhaftet, sodass die Mutter Sergej bittet, die Tochter in Sicherheit zu bringen. Sergej muss Ende August heimkommen, da er nur so von den Baptisten Gratiskohle für den Winter bekommen wird.

Daher macht er sich nach 89 Tagen und einem guten Sommer für seine Bienen auf die Rückreise und nimmt Ajsche mit. Sie wird unterwegs in einen Bus nach Winnyzja einsteigen und dort von Sergejs Frau abgeholt werden, er selbst wird mit seinen Bienenstöcken zurück in die Graue Zone reisen.

In unaufgeregter aber eindrücklicher Weise wird geschildert, wie genügsam man leben kann, wie sehr man sich mit bedrohlichen Situationen arrangieren kann, wenn es noch einen guten Grund gibt, an dem Ort eines Kriegsgeschehens oder der Unterdrückung zu bleiben.
Hätte Sergej nicht seine Bienen, um die er sich sorgt und kümmert, wie um die Familie, die nicht mehr bei ihm lebt, hätte sein Leben offenbar keinen Sinn mehr.
(Rezension Andrea Czerny-Riess)

»Andrej Kurkow ist mit ›Graue Bienen‹ ein scharf gezeichnetes Bild des weiterschwärenden Kriegs in der Ukraine gelungen, von dem das übrige Europa seit langem den Blick abgewendet hat.«
Sigrid Löffler / Deutschlandfunk Kultur, Berlin

Graue Bienen
Erschienen 2019 bei Diogenes
448 Seiten
ISBN: 978-3-257-07082-8